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Ziviler Ungehorsam im demokratischen Verfassungsstaat
Convenors
Ulfrid Neumann (Goethe-Universität Frankfurt am Main, Germany) u.neumann@jur.uni-frankfurt.de
Frank Saliger (Ludwig-Maximilians-Universität München, Germany) Frank.Saliger@jura.uni-muenchen.de
Ziviler Ungehorsam im demokratischen Verfassungsstaat
Die Frage, wie „ziviler Ungehorsam“ in einem demokratischen Rechtsstaat rechtlich und moralisch zu bewerten ist, markiert ein traditionelles Problem der Rechtsphilosophie. Es ist mit anderen „klassischen“ rechtsphilosophischen Themen eng verbunden: dem Verhältnis von Recht und Moral, der Alternative von Rechtspositivismus und Rechtsmoralismus, den Voraussetzungen der Rechtsgeltung (insbesondere „Anerkennungstheorie“ vs. „Machttheorie“ etc.).

Besondere Aufmerksamkeit erfährt das Problem des zivilen Ungehorsams in Zeiten, in denen wichtige, möglicherweise: dramatische staatliche Entscheidungen in der Gesellschaft auf erheblichen kollektiven Widerstand stoßen. In derartigen Phasen erhält die Frage nach seiner rechtlichen und moralischen Bewertung nicht nur erhebliche praktische Bedeutung. Das zeitgeschichtliche Phänomen eines breiten gesellschaftlichen Widerstands gegen Maßnahmen von Regierung und Parlament ist auch Anlass für die Wissenschaft, sich mit der rechts- und moralphilosophischen Problematik des zivilen Ungehorsams intensiver zu befassen. Beispielhaft sind hier die Analysen von Richard Dworkin aus den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, die sich exemplarisch auf die Frage der rechtlichen und moralischen Bewertung der Verweigerung des militärischen Dienstes im Rahmen von Amerikas Vietnam-Krieg beziehen.

Aktuell sind es vor allem die Proteste von Klima-Aktivisten, die die Frage nach der Berechtigung von Gesetzesverletzungen aufwerfen, die einem gesellschaftlich grundsätzlich anerkannten Ziel dienen sollen. Hier geht es einerseits um die Legalität, andererseits um die Legitimität von Protestformen, die jedenfalls prima facie mit der geltenden Rechtsordnung nicht vereinbar sind. Hinsichtlich der Legalität wird diskutiert, ob Protestaktionen zugunsten des Klimaschutzes möglicherweise unter Notstandsgesichtspunkten gerechtfertigt sein können. Verneint man dies mit der ganz überwiegenden Meinung, dann stellt sich die Frage, ob es möglich ist, ein Institut des „Zivilen Ungehorsams“ als eigenständigen Rechtfertigungsgrund anzuerkennen. Gegen diese Möglichkeit wird u.a. geltend gemacht, dass ziviler Ungehorsam seine Glaubwürdigkeit ebenso wie seine politische und moralische Kraft gerade aus der Bereitschaft der Protestierenden gewinnt, die Folgen einer Verletzung geltenden Rechts auf sich zu nehmen (Habermas).

Bei der Frage der Legitimität von Aktionen des zivilen Ungehorsams stellt sich zunächst das Problem, ob man, wie teilweise angenommen, insoweit zwischen Protestaktionen in einem Unrechtsstaat, einerseits, in einem Rechtsstaat unterscheiden und eine mögliche moralische Rechtfertigung von vornherein auf Aktionen in Unrechtsstaaten beschränken muss. Lehnt man diese Einschränkung mit der ganz überwiegenden Auffassung ab, dann müssen Voraussetzungen eines legitimen zivilen Ungehorsams im Rechtsstaat angegeben werden. Rawls schlägt in seiner klassisch gewordenen Definition vor, als zivilen Ungehorsam „öffentlich vorgenommene, gewaltlose, gewissensbestimmte aber politische, gesetzwidrige Handlungen“ zu klassifizieren, die auf eine Änderung der Regierungspolitik oder der Gesetzgebung abzielen.

Ziviler Ungehorsam im demokratischen Verfassungsstaat unternimmt den Versuch, im Wege gesetzwidrigen Handelns gegen demokratisch verabschiedete Gesetze oder Entscheidungen einer demokratisch legitimierten Regierung vorzugehen, und impliziert insofern eine Missachtung der „Mehrheitsregel“. Seine moralisch-politische Rechtfertigung unterliegt daher einer hohen Argumentationslast. Teilweise wird hier der Unterschied zwischen Legalität und Legitimität akzentuiert; so wendet sich Habermas gegen einen „autoritären Legalismus“ und bezeichnet die Bürger, die zivilen Ungehorsam üben, als „Hüter der Legitimität“. Eine wichtige Rolle spielt in der Diskussion der Gesichtspunkt, dass in Akten zivilen Ungehorsams Forderungen der Gerechtigkeit zum Ausdruck kommen können, die im geltenden Rechtssystem keine oder nur unzureichende Berücksichtigung finden. Dworkin geht davon aus, dass jedenfalls nach der Verfassung der USA die Gültigkeit von Gesetzen auch anhand von Kriterien der politischen Moral zu beurteilen ist, die in Aktionen des zivilen Ungehorsams artikuliert werden können. Auch in der aktuellen deutschen Diskussion wird ein Bezug zur Verfassung hergestellt, die teilweise als „Verbündeter“ der Klima-Protestierer gesehen wird, zugleich aber auch als durch Akte zivilen Ungehorsams beeinflussbar gedacht wird.

Thematisiert werden sollen unter anderem folgende Punkte:
- Möglichkeiten einer juristischen Rechtfertigung bestimmter Akte zivilen Ungehorsams, insbesondere bei Klima-Protesten;
- Ziviler Ungehorsam als juristischer Rechtfertigungsgrund sui generis?
- Spannung zwischen zivilem Ungehorsam und Demokratieprinzip
- Verfassungsrechtliche Relevanz von gesellschaftlich weithin akzeptierten Aktionen zivilen Ungehorsams
- Voraussetzungen der Legitimität von Akten zivilen Ungehorsams (insbes. hins. der Ziele und der eingesetzten Mittel).
- Verhältnis Ziviler Ungehorsam/Widerstandsrecht
Der Workshop wird in deutscher Sprache durchgeführt.

Kontakte:
Prof. Dr. Ulfrid Neumann (u.neumann@jur.uni-frankfurt.de)
Prof. Dr. Frank Saliger (Frank.Saliger@jura.uni-muenchen.de)